II.5. Kultisten - Die FansInhaltsverzeichniswww.bleyenberg.deIII.2. Der Kultfilm als postmodernes Phänomen

III. SOZIOKULTURELLER KONTEXT

1. Das Geheimnis des Erfolgs

Nachdem ich nun einige Aspekte der Soziologie angesprochen und das Phänomen des Kultfilm beschrieben habe, stellt sich natürlich die Frage nach dem soziokulturellen Kontext. Einige Konfliktpunkte zwischen Populär- und Hochkultur wurden an so mancher Stelle ausgemacht, wie zum Beispiel der Vorwurf, Hollywoods Produkte seien ausnahmslos durchkalkulierte Massengüter, programmiert für den Erfolg. Allerdings hoffe ich, bereits klargestellt zu haben, dass dem nicht unbedingt so ist. Bevor ich nun die Gesichtspunkte der Postmoderne in Zusammenhang mit dem Phänomen des Kultfilmes bringe, versuche ich zuvor an anderen Aspekten zu erläutern, warum sich gerade in unserer medialen Gesellschaft trotz des enormen Angebots an Filmen und Fernsehserien nur einige wenige zum Kult entwickeln.
 

1.1. Moderne Märchen

Wenn man sich die negativen Ansichten renommierter Kritiker einmal genau anschaut, dann fallen einem unter Umständen einige Parallelen zu anderen Texten auf. So sind sämtliche klassischen Bestandteile eines hollywoodschen Blockbusters*1, wie klischeehafte Helden, vorhersehbare Geschichten und düstere Fieslinge, noch in einer anderen Art von Unterhaltungstexten zu finden: im Märchen. Nur im Gegensatz zu der knapp einhundertjährigen Geschichte des Films, kann diese Form des Entertainments auf ganze Jahrtausende zurückblicken.

Märchen und Sagen gibt es, seit sich die Menschheit verbal zu verständigen weiß. Überall auf der Welt warnten Geschichten von bösen Kobolden und hinterhältigen Feen die Menschen vor den Mächten der Natur. Auf der anderen Seite bewiesen Helden aber immer wieder, dass selbst ein Feuer speiender Drache zu besiegen war. Erstaunlich dabei ist, dass viele Elemente aus deutschen Märchen auch in den Erzählungen Arabiens und Indiens zu finden sind, wie zum Beispiel ein fliegendes Pferd oder vampierähnliche Wesen. Egal wie verschieden die Kulturen auch sein mögen, die Märchen scheinen es nicht zu sein. Einige Psychologen vermuten daher, dass sich im Unterbewusstsein gewisse emotionale Bildnisse gebildet haben, die in der gesamten Menschheit weitervererbt werden. (vgl. Thorgesson 1998: 96) Auch Carl Jung sah in Märchen eine Darstellung der innerseelischen Vorgänge. (vgl. b) Woeller 1990: 31) Allerdings deutet das passende Verhältnis zwischen geographischer Lage und chronologischer Abfolge eher auf eine Überlieferung der Geschichten durch Reisende und Händler hin. Nicht zuletzt deswegen spielen viele Märchen auf Reisen und Abenteuern, die sich somit eine erste Ähnlichkeit mit der Reiselektüre des 18. Jahrhunderts teilen. (vgl. a) Woeller 1990: 10) Die ältesten niedergeschriebenen Märchen stammen aus Indien zirka eintausend Jahre vor Christus. In den folgenden zwei Millenniums wanderten sie über Arabien, wo sie zu den Geschichten aus 1001 Nacht wurden, nach Europa. Im Laufe der zumeist mündlichen Weitergabe wurden sie immer wieder den gesellschaftlichen und geschichtlichen Verhältnissen angeglichen. Allerdings erlaubten die erzählten Geschichten, dass man sie spontan auf die Zuhörer abstimmen konnte. Ob es sich dabei um einen Gutsherren oder Landarbeiter handelte, durch geringfügige Änderungen konnte man sich mit der selben Geschichte über den jeweils anderen lustig machen. Denn auf Gesellschaftskritik oder Verteidigung der Herrschaftsverhältnisse kam es in den Märchen überhaupt nicht an. Statt dessen sollten sie die Menschen von ihrem harten Alltag ablenken, indem sie sie für einige Momente in die Welt der Phantasie entführten, wo Probleme gelöst und das Böse besiegt wurde und der Held am Ende immer das Mädchen bekommt. Alles war möglich - und wenn es doch mal jemandem schlecht erging, bedeutete dies nur, dass man selbst es besser hatte.
Genau diese Absicht wirft man auch den Hollywoodfilmen vor, und wie bereits angesprochen verlaufen sie tatsächlich fast immer, vor allem aber die Kultfilme, nach diesem Muster. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich sogar noch mehr Gemeinsamkeiten. So ist der Held immer eine Figur, mit der sich das Publikum identifizieren kann. Im deutschen und arabischen Volksmärchen ist es daher kein antiker Heros, sondern ein verletzlicher Normalbürger, der trotz aller Widerstände doch sein Ziel erreicht. Im Mittelalter waren es Hirtenjungen oder Knappen – heute ist es der Typ von Nebenan, der keineswegs unverwundbar ist (vgl. a) Woeller 1990: 19). Am Ende des Films ist Indiana Jones von Blutergüssen übersäht, und Bruce Willis alias John McClaine aus „Stirb Langsam“ (USA 1988) dürfte aufgrund seines hohen Blutverlustes zum Schluss gar nicht mehr am Leben sein. Doch trotzdem gelingt es ihnen immer, die bösen und vor allem übermächtigen Gegner zu besiegen. Früher waren es Hexen oder Zauberer, die gewaltige Drachen befehligen konnten, heute sind es milliardenschwere Konzernbosse, die mit einer Superkanone die Weltherrschaft an sich reißen wollen.

Als im 14. Jahrhundert die Kirche verbreitete, dass Drachen und Kobolde nichts weiter als heidnischer Aberglaube seien, verkam das Märchen bald zum Kinderschreck. Während die berühmten Gebrüder Grimm Anfang des 19. Jahrhunderts eine Sammlung der bekanntesten Märchen zusammenstellten, schrieben sie diese ausschließlich für Kinder. Dabei blieben die Beschreibungen der Umwelt recht oberflächlich, so dass man gezwungen ist, seine eigene Phantasie zu nutzen. (vgl. b) Woeller 1990: 24) Ein Wald ist immer nur dunkel. Erst die Erfahrungen und Erlebnisse des Lesers fügen die bedrohlichen Geräusche und die beklemmende Enge hinzu. Je weniger Vorgaben es gibt, desto mehr kann sich der Rezipient seine eigene Umwelt schaffen – ein Merkmal, dass ebenfalls den Kultfilm charakterisiert. 

Auffallend ist auch der hohe Anteil an roher Gewalt in Märchen. Bei „Hänsel und Gretel“ wird die Hexe bei lebendigem Leib verbrannt, und „Schneewittchen“ wird, nachdem das Erdrosseln nicht geklappt hat, schließlich fast vergiftet. In den 70ern versuchten übereifrige Pädagogen daher, diese Geschichten „kinderfreundlicher“ zu gestalten, doch niemand wollte sie lesen. Die Kinder erwarteten einfach, dass das Böse nicht nur besiegt, sondern mit tödlicher Sicherheit ausgelöscht wird. Nur so kommt es zu einem echten Happy End – das Erfolgsrezept Hollywoods. Und heute wie damals bekommt der Gute zum Schluss noch immer das Mädchen!

Dadurch, dass Märchen fortan nur für Kinder geschrieben wurden, ist das Verlangen nach Wundern bei den Erwachsenen natürlich nicht verschwunden. Das Phantastische funktioniert seit eh und je nach dem gleichen Prinzip. Zuerst führten Märchen ihre Zuhörer in fremde Länder, doch seit man all inclusive um die Welt fliegen kann, zeigt uns die Science-Fiction noch sehr viel fernere Welten. Nachdem auch dies zum Teil keine Utopie mehr ist, werden unbekannte Dimensionen erschlossen. Mystery überall ! 

„Gewiss ist auch, dass sich das Märchen in dem Fortgang der Zeit beständig neu erzeugt...“ (Gebrüder Grimm aus b) Woeller 1990: 31)
Ich denke, dass man Kultfilme sozusagen als eine Weiterführung der klassischen Märchen ansehen kann. Und egal wie kitschig und oberflächlich die Populärkultur auch sein mag, für den Rezipienten ist sie es nicht. Bei „Krieg der Sterne“, dem ultimativen Kinomärchen, beschränkt sich dies nicht nur auf Handlung und Figuren, die sich mit Rittern und Prinzessinnen eindeutig an die europäische Mythologie anlehnen, sondern beinhaltet gleich eine Fülle von Kleinigkeiten. So sind die Kostüme geprägt von Anleihen aus dem asiatischen Mittelalter, und die Armee des dunklen Imperiums, die Sturmtruppen, erinnert mit ihrer sterilen und monotonen Ausstrahlung stark an die Aufmachung der Wehrmacht. (vgl. Henderson 1998: 153) All diese realen Ähnlichen sprechen zusammen das Unterbewusstsein an, bis die zunächst weit, weit entfernte Galaxie letztlich sehr viel näher ist, als man denkt.
 

1.2. Jugendkultur

Ginge es nach dem amerikanischen Soziologen Neil Postman, werden die modernen Medien und Technologien zu einer vollkommenen Vereinsamung der Menschheit führen. Er setzt dabei voraus, dass diese keine Möglichkeiten bieten, sich als Gemeinschaft zu fühlen, da er die direkte verbale Sprache als einzig menschliche Interaktion ansieht. (vgl. Schuster 1999: 7-11) Generell sind für Postman Film und Fernsehen die Wurzeln allen Übels. Doch zumindest die vielfältigen Kulte sind ein Beweis dafür, dass Filme und TV-Serien in vielen Fällen im Kollektiv konsumiert werden und sogar ganze Sozialwelten hervor bringen können. Es ist jedoch eine ungemein bequeme Sache, die Schuld für soziale Missstände und Verbrechen jedweder Art einfach auf die ach so gewalttätigen Filme zu schieben, um sie nicht bei sich selbst suchen zu müssen. So ist es nicht verwunderlich, dass einige Wissenschaftler hartnäckig nachzuweisen versuchen, dass das Kino nachhaltig die Psyche von Kindern und Jugendlichen schädigt. In einer Befragung von 1955 kamen die Psychologen Fritz Stückrath und Georg Schottmayer zu dem Schluss, dass die wuchernden Bilder den seelischen Binnenraum auszufüllen drohen. Alleine die Darstellung von Kriminalität sei schon eine Vorstufe zum Verbrechen, da sie die Eigeninitiative der potentiell kriminellen Jugendlichen vorwegnimmt. (vgl. Stücktrath/Schottmayer 1955: 158, 161) Um dies zu beweisen, genügten ihnen bereits einfachste Berichte von Kindern, die lediglich wiedergaben, was sie auf der Leinwand gesehen hatten. 

Selbst jüngere Studien geben zwar immer vor, die Problematik von Einzelfällen nicht als Normalität darzustellen, dennoch wird durch die Herausstellung von Extremen genau dies bewirkt. So werden bei Baacke 1991 diverse Beispiele für neue Medienwelten präsentiert, die ausschließlich negativ belegt sind. Der kleine Satz zum Schluss, dass diese Fälle nicht verallgemeinert werden dürfen, geht in Anbetracht der vorangegangen mehr als 250 Seiten völlig unter, zumal sich jene Untersuchung als allgemein gültiger Querschnitt durch die Jugendkultur betrachtet.

Zwar können gewalttätige Tendenzen bei psychisch labilen Persönlichkeiten verstärkt werden, doch es gibt keinerlei Beweise, mit denen Kriminalität und Filme in Zusammenhang zu bringen sind. Gerade Jugendliche sind sich aufgrund ihrer zumeist höheren Medienkompetenz gegenüber den Erwachsenen der Fiktion zumeist stärker bewusst, da sie als Mitglieder der Fernsehgeneration oft die technischen Tricks und Effekte kennen. So ist die vermeintliche Verrohung bei den Fans von Horrorfilmen lediglich ein Ausdruck davon, dass dieser oder jene Effekt in einer Szene nicht gerade neu ist. Die Unterhaltung steht im Vordergrund, was das Empfinden von realer Gewalt beim mit Abstand größten Teil der (jugendlichen) Rezipienten nicht beeinflusst. (vgl. Winter/Eckert 1990: 133-134)
 

Abb.24: Altersstruktur der Kinobesucher Quelle: RMC medien consult GmbH

Bei der Freizeitgestaltung von Jugendlichen nimmt das Kino einen hohen Stellenwert ein. In einer Umfrage im Jahre 1989 gaben 74% an, das Kino als Freizeitaktivität zu nutzen. Übertroffen wurde es lediglich von Musik hören. (vgl. Hurrelmann 1994: 160) Auch die nebenstehende Statistik belegt, dass das Kino eher ein Treffpunkt der Jugend ist, worauf die Filmindustrie ihr Angebot bereits in den 60ern abzustimmen begann.

Mit dem Einzug der Videotechnik in die heimischen Räumlichkeiten wurde der Zugang zu Filmen zu jeder beliebigen Zeit möglich, was zu weiteren negativen Spekulationen führte. Das neue Medium verdrängte jedoch nicht, wie oft befürchtet wird, die traditionellen Formen, sondern wurde in das mediale Angebot aufgenommen. (vgl. Vogelgesang 1991: 260)

„Hoch im Kurs stehen dagegen Handlungsmuster wie selbst aktiv sein, Spaß haben, sich vergnügen, etwas erleben zu wollen – aber nicht als Individual- sondern als Gruppenfreizeit.“ (Vogelgesang 1991: 261)
Gerade Jugendliche nutzen diese Technik zum Erweitern ihrer gemeinsamen Aktivitäten. Seitdem ist der Videoabend ein regelmäßiges Ereignis. Die vermeintlich allgemeine Vereinsamung und die Gefährlichkeit von Videos sind somit nicht mehr als Mythen.
Generell neigen Jugendliche dazu, innerhalb ihrer Altersgruppe engere Freundschaftsbeziehungen zu knüpfen. Der Einflussbereich von Familie und Schule wird dabei in den Hintergrund gedrängt - oder anders ausgedrückt: Eltern sind out! (vgl. Hurrelmann 1994: 150-155) Man entwickelt Aktivitäten, die von der konservativen Norm abweichen, wobei die symmetrische Konstitution innerhalb einer Gruppe auffällig ist. Je weiter sich diese Aktivitäten von denen anderer Gruppen unterscheiden, können Subkulturen entstehen, die nicht zuletzt von der konsumorientierten Modewelt gefördert werden. Die finanzstarke Jugend ist zur Zielgruppe geworden, in der die Live-for-the-moment-Mentalität der Generation-X zum Garant für hohe Gewinne geworden ist. Inzwischen gibt es für jede Subkultur die passende Kollektion, die mit einer entsprechenden musikalischen Untermalung vermarktet wird – sehr zum Verdruss der Jugendlichen, die mit ihren unkonventionellen Stilen eigentlich den Ausbruch aus der vorgegebenen Gesellschaftsform versuchen, was zu immer neuen Konstellationen führt. Für jeden Einzelnen besteht daher das Problem der Vielfalt bei einem gleichzeitigen Zwang zur Individualisierung, womit an dieser Stelle die Problematik der Postmoderne auch in die Jugendsoziologie übergreift. (vgl. Ferchhoff/Neubauer 1997: 80)

Sowie Mode und Musik Teil der Darstellung einer bestimmten Subkultur sein können, trifft dies natürlich auch auf den Film zu, der, wenn er die Mentalität einer Sozialwelt oder Subkultur treffend zum Ausdruck bringt, schnell zum Kultfilm werden kann. So wurde „The Rocky Horror Picture Show“ zunächst von der homosexuellen Szene zum Kult erhoben, der daraufhin auch andere Gesellschaftsschichten auf sich aufmerksam machte.
„Filme vermitteln kulturelle Erfahrungen (Scripts, Phantasien etc.). Die im Film dargestellten typisierten Modelle verstärken die Bereitschaft der Zuschauer, Gefühle und Handlungen im Alltag filmanalog zu verknüpfen.“ (Winter/Eckert 1990: 83)

Dementsprechend ist ein Kultfilm also in der Lage, die ansonsten klar gezogenen Grenzen zwischen Subkulturen zu durchbrechen. Gleichzeitig macht er durch seine allgemeine Zugänglichkeit soziale Bereiche miteinander bekannt, die vorher kaum etwas vom anderen wussten. Gerade Jugendliche scheinen recht dankbar auf medial vermittelte Aktivitäten zu reagieren, die ihrer Mentalität entsprechen, und integrierten diese in ihre Freizeit. Ein Beispiel hierfür wäre die sprunghaft angestiegene Nachfrage nach BMX-Rädern in den 80errn, die durch Steven Spielbergs „E.T.“ entstand. Die Einstellung, bei dem Elliot mit seinem Rad vor dem Mond am nächtlichen Firmament herfliegt, dürfte außerdem zu den am häufigsten parodierten Szenen der Filmgeschichte zählen. 

Letztlich können Filme Ausdruck sowie Anreiz für jugendliche Subkulturen sein –auch indem sie deren Probleme und Sorgen thematisieren und somit eine für Außenstehende nicht erkennbare Tiefe erreichen. Sie bringen Mentalitäten und Interessen auf den Punkt und können gerade dadurch zum Kult avancieren. 
 

1.3. Erlebnisraum Kino

Als vor zirka 100 Jahren die ersten Filmvorführungen stattfanden, waren die sogenannten bewegten Bilder eine absolute Revolution auf dem Sektor der Unterhaltung. Geradezu rasant verlief der folgende Siegeszug des Kinos, und bereits wenige Jahre nach der Geburt dieses Mediums war es der Publikumsmagnet schlechthin. Dabei waren die ersten Zuschauer jedoch zunächst ein wenig skeptisch, was die Ähnlichkeit mit dem traditionellen Theater anging. Ein Kassenhäuschen, eine Garderobe, Saaldiener, gepolsterte Sitze und der klassische Vorhang vor der Leinwand – all dies schien eine merkwürdige Stimmung zu verbreiten, so dass man letztlich doch siedend vor Erwartung auf jenes Erlebnis wartete, welches das Surren des Projektors ankündigte. (vgl. Brod 1992: 15)

Doch auch in anderer Hinsicht bot das Kino ganz neue Erfahrungen. Als bei einer der ersten Filmvorführungen ein Zug auf der Leinwand in Richtung Zuschauer fuhr, sprangen diese in Panik von den Sitzen und brachten sich in Sicherheit. Ab diesem Zeitpunkt war klar, dass das Kino weit mehr als eine bloße Aneinanderreihung von zwölf (später vierundzwanzig) Photographien pro Sekunde war. Es bot eine gänzlich neue Wahrnehmung, auf die die Sinne noch nicht angemessen zu reagieren wussten, was sich natürlich sehr bald ändern sollte. Neben dem gesellschaftlichen Ereignis wurde eine Kinovorstellung zum Erlebnis. Die künstlichen Bilder mit ihrer Tiefe, und später mit ihrem Ton und ihrer Farbe, kreierten durch die reale Bewegung eine Traumwelt, in die sich der Zuschauer regelmäßig entführen ließ, um sich vom Alltag abzulenken und in Gedanken das durchzuspielen, was man sich im normalen Leben nicht traut – heute mehr denn je. (vgl. Blothner 1999: 23) Es beginnt schon beim Kauf der Karten, dem Anstehen in der Schlange, dem ungeduldigen Warten während der Werbung bis schließlich das letzte Licht erlischt und der Vorhang den Blick auf die volle Breite der gigantischen Leinwand freigibt. Ab diesem Augenblick sitzt man dann neben mehr als hundert vollkommen fremden Menschen und ist doch alleine.

„Der verdunkelte Raum, die Isolation in einer anonymen Masse, die meist nichts mehr gemeinsam hat als das Interesse für den Film, und (zumindest früher) die quasi-religiöse Dimension des Erlebens in den großen Filmpalästen, den Kathedralen des Lichts, bringen den Zuschauer in einen Zustand der Hyperrezeptivität.“ (Winter/Eckert 1990: 74)
Diese Romantik ist es, was das Kino zu etwas Besonderem werden lässt. Bilder und Figuren erscheinen real. Geschichten werden zu intensiven Erlebnissen und nicht selten zu emotionalen Erfahrungen. So berichtet Helmut Karasek in seinem Buch „Mein Kino“ (1994) von den Momenten, in denen er sich als Student auf der Flucht vor den trockenen Seminaren oft in die Scheinwelt des Kinos rettete und sich dort heimlich die von seinen Professoren als Schund titulierten Streifen anschaute, wozu damals noch die unumstrittenen Klassiker von heute zählten.

Vor allem aber die Gemeinschaft ist es, was das Kino vom heimischen Fernseher unterscheidet. Es hat schon seine Gründe, warum in amerikanischen TV-Sitcoms das Lachen eines Publikums eingespielt wird, was eine reale Zuschauermasse allerdings mehr schlecht als recht zu simulieren vermag: Der Mensch lacht richtig herzhaft zumeist nur, wenn er einer unter vielen ist. (vgl. Karasek 1994: 9) Das Kinokollektiv vermag den Einzelnen auch dann einfach mitzureißen, selbst wenn dieser ansonsten der mürrischste Mensch der Welt zu sein schein. In dieser Atmosphäre wirkt ein potentieller Kultfilm verständlicherweise doppelt. Nicht zuletzt deswegen konnten Filme wie „The Rocky Horror Picture Show“, „Blues Brothers“ oder „Star Wars“ zu den aktivsten Kulten avancieren, weil sie im Kinosaal nicht nur angeschaut, sondern gelebt wurden. Das Kino war Treffpunkt der Filmfreaks, die dort ihren Tempel hatten und ihre Rituale vollzogen. (vgl. Hahn/Jansen 1998: 645)

Aber auch bei allen anderen Filmen ist die Art und Weise, wie man sie als Zuschauer aufnimmt, eine viel intensivere. Alleine schon der Aufwand, den der zahlende Besucher mit der Fahrt zum Kino betreibt, zeugt von der Bereitschaft, sich einen Film konzentriert anzuschauen. Die Dunkelheit im Saal und das Schweigen des Publikums lenken alle Sinne auf die Leinwand - lediglich untermalt vom andächtigen Knistern des Popkorns. Zuhause mit Freunden ist dies zumeist anders. Es wird geredet, gegessen und zwischendurch klingelt das Telefon. Und so ermöglicht das Fernsehen und Video lediglich eine flüchtige Betrachtungsweise. (vgl. Winter/Eckert 1990: 88)

„Das Fernsehen ist in erster Linie kein Apparat, um Filme zu sehen, sondern um Filme wiederzusehen.“ (Karasek 1994: 8)
Abb.25: Bildkonvertierung bei Cinemascope
Vor allem die beeindruckende Größe der Leinwand, die einen großen Anteil der Wirklichkeitsdarstellung ausmacht, wird auf ein Minimum zusammengeschrumpft und ist häufig sogar verstümmelt. Um das fast viereckige Bild des Fernsehers zu füllen, wird das Breitbild des Kinofilms oftmals an den Seiten einfach abgeschnitten. Selbst wenn das herkömmliche 3:4-TV-Bild noch die bekannten schwarzen Streifen aufweist, fehlt ein Teil.
Als 1953 das Cinemascopeformat eingeführt wurde, war es zunächst lediglich eine weitere Besonderheit des Kinos. Es ließ die aufwendigen Szenen der Monumental-filme noch gigantischer Erscheinen. Da es aber mit seinem Verhältnis von 1:2,31 in etwa dem menschlichen Sichtfeld von 90° zu 180° entspricht, erkannten die Regisseure bald die psychologischen Möglichkeiten dieses Formats. Durch den Einsatz von besonderen Einstellungen, Kamerafahrten und Stilmitteln vermitteln sie den Zuschauern seitdem wesentlich intensivere Erlebnisse. Werden jene Bilder nun gekürzt, geht verständlicherweise auch deren Wirkung verloren – zuweilen sogar der komplette Inhalt. Anhand der beispielhaften Abbildung ist zu sehen, wie schon die Konvertierung auf Breitwand (Letter-boxverfahren) die Aussage verändert. Aus der Armada ist ein einzelnes Schiff und aus der winkenden Menge eine einzelne Person geworden, der man ihre Gemütszulage nicht mehr entnehmen kann. Im 3:4-Format ist von den relevanten Bildausschnitten sogar rein gar nichts mehr zu sehen. Zwar wird bei dieser Konvertierung im Pan-Scan-Verfahren ein zusätzlicher Schwenk eingesetzt, aber in jedem Fall ist die Komposition des Kameramanns und Regisseurs zerstört. (vgl. www.phil-fak.uni-duesseldorf.de)

Um diesen Zustand anzuprangern, versuchte der Verband norwegischer Regisseure Anfang der 90er gerichtlich zu verhindern, dass der Film „Die drei Tage des Condors“ (USA 1974) von Sydney Pollack im Pan-Scan-Verfahren bearbeitet wurde, was im europäischen Recht gegen die Urheberrechte verstieß. Die Klage war erfolgreich, da im direkten Vergleich der beiden Formate eindeutig zu sehen war, dass relevante Teile des Bildes fehlten. An einigen Stellen wurde gar über Dinge geredet, die sich nicht mehr im Blickfeld des Zuschauers befanden. Aus der Sicht der Richter stellte dies eine künstlerische Verstümmelung und eine nachträgliche und somit widerrechtliche Veränderung des Produktes dar.

Auch dies zeigt erneut, wie sehr sich das Kino vom heimischen Fernseher unterscheidet. Doch in jüngster Zeit ist dieser Unterschied zumindest auf der Ebene der Wahrnehmung geringer geworden. Seit die Unterhaltungsindustrie in Form von Multiplexen auch die Kinowelt zu einem Erlebnispark ausgebaut hat, ist nicht mehr die Rezeption eines Films das Ziel, sondern lediglich dessen Konsumierung. (vgl. Hahn/Jansen 1998: 645). Die palastartige Größe der alten Säle ist der wohnzimmerhaften Enge kleinerer Räume gewichen, die weitaus öfter ausverkauft werden können. Moderne Soundsysteme werden inzwischen vom Publikum vorausgesetzt. Und beworben wird nicht mehr der Film, sondern der Barbetrieb. 

Seit der Erbauung des ersten Multiplexes 1990 in Hürth bei Köln, beträgt deren Anteil an den deutschlandweit 4050 Leinwänden bei über 30%. (vgl. Schuster 1999: 179) Zudem lag die Anzahl der Leinwände 1990 noch bei 3750. Auch die Zuschauerzahl ist seitdem beständig gestiegen – von den bereits erwähnten 124,5 Millionen im Jahr 1995 auf 152,5 Millionen in 2000. Dieser Erfolg ist allerdings nicht nur auf den technischen Aufwand zurückzuführen, sondern liegt zum Teil auch in der postmodernen Mentalität unserer gegenwärtigen Erlebnisgesellschaft, in der ein Produkt nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern lediglich Selbstzweck ist. (vgl. Schulze 1992: 13) Das Kino ist nicht mehr die Traumwelt, in der man seine Freizeit verbrachte, sondern mutierte zur Erlebnisgastronomie – zum Entertainment-Center. Bis dahin bestand das Erleben des Films auch aus dem anschließenden Gedankenaustausch und nicht nur aus dem kurzen Gespräch „Und, wie hat Dir der Film gefallen?“ - „Gut.“ - „Mir auch. Lass uns noch einen Trinken gehen.“

     Abb.26: Bestellsystem eines Multiplex’
Inzwischen ist die Kinowelt einer Stadt in der Regel vollkommen monopolisiert. Die hohen Investitionen, die für den aufwendigen Umbau und die teure Technik nötig sind, können von den älteren Familienbetrieben zumeist nicht aufgebracht werden, die dann von den Multiplex-Ketten aufgekauft werden. Ich selbst habe als ehemaliger Filmvorführer eine derartige Übernahme mitgemacht, und auf die Gefahr hin, nun vollkommen subjektiv zu erscheinen: Es war keine schöne Erfahrung. Nun mochte dies daran liegen, dass wir von einem Extrem ins andere geraten waren, denn der Film wurde zur absoluten Nebensache. Direkt vor den Zuschauern befinden sich nun kleine Terminals, von denen aus man Getränke und Knabbereien bestellen und sich direkt an den Platz bringen lassen kann. (siehe Abb.26) Permanent laufen gehetzte Servicekräfte durch den ständig schwach beleuchteten Saal, was die Stille und Aufmerksamkeit des Publikums nachhaltig stört. Statt sich den Film anzuschauen, diskutiert man lautstark über die (fehlerhafte) Bestellung und zählt klimpernd das Geld ab. Mittlerweile sind selbst klingelnde Handys keine Seltenheit mehr. Der Zuschauer ist zum Störfaktor geworden, den man mit Hilfe kurzer Trailer, die die Rücksichtnahme auf andere propagieren, zu minimieren versucht. War das Kino bislang einer der wenigen Orte, wo man in unserer automatisierten Welt noch konzentriert an den Werken eines anderen teilnahm, ist es nun selbst zum Automaten geworden. Stand der Chef des alten Kinotheaters am Ende eines jeden Films am Ausgang und fragte die Zuschauer nach ihren Eindrücken, werden die Konsumenten der modernen Großraumkinos gelegentlich noch während des Aspanns zum Verlassen des Saals aufgefordert, um ihn bereits für die nächste Vorstellung reinigen zu können.

Inzwischen scheint die McKinematographierung, wie Cineasten diese Entwicklungen des Kinos beschreiben, aber auch ihre Nebenwirkungen zutage zu führen. Alle zukünftigen Multiplexprojekte wurden eingestampft, da das Zuschauerwachstum zu stagnieren droht, was in Anbetracht der modernen HiFi-Technik auch nicht sonderlich verwundert. Trotz meinen als Student eher bescheidenen finanziellen Mitteln, verfüge ich über eine Dolby-Digital-Anlage mit DVD-Player. Filme im glasklaren Cinemascope-Format und feinster Originalsprache sind nicht länger das Privileg des Kinos – nur mit dem Unterschied, dass man zuhause nicht von klingelnden Handys gestört wird. Mit dieser Meinung ist man als Cineast übrigens alles andere als alleine. Nachdem ich die Missstände des örtlichen Multiplex’ auf meiner Homepage angeprangert hatte, trafen bereits wenige Tage später die ersten Zustimmungen ein.

Auch wenn die letzten Erläuterungen nicht gerade eine neutral wissenschaftliche Betrachtungsweise verkörpern, so machen sie trotzdem die soziokulturellen Schäden innerhalb der industrialisierten Kinoumwelt deutlich, in der für das Ausleben eines Kultes nur noch schwer Platz zu finden ist. Doch es scheint sich Widerstand zu formieren.

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*1 Blockbuster (Straßenfeger) ist ein Begriff für kommerziell äußerst erfolgreiche Filme.

II.5. Kultisten - Die FansInhaltsverzeichniswww.bleyenberg.deIII.2. Der Kultfilm als postmodernes Phänomen