I.1. Die Geschichte des FilmsInhaltsverzeichniswww.bleyenberg.deI.3. Gedanken zur Postmoderne

I. BASIS
2. Aspekte der Filmsoziologie

So wie sich in den letzten Jahrzehnten der Film veränderte, so erlebte auch die Filmsoziologie einige Veränderungen – und erlebt sie natürlich noch. Vor allem der anscheinend ewig andauernde Konflikt zwischen Publikum und Filmkritikern nimmt bis heute Einfluss auf eine nüchterne soziologische Betrachtung von Filmen und fand bereits in den 20er-Jahren seinen Beginn. Zu jener Zeit begann sich der Film gerade als Massenmedium durchzusetzen. Vor allem die untere Mittel- und die obere Unterschicht der Großstädte nutzen den Film als Möglichkeit, sich von ihren alltäglichen Sorgen ein wenig abzulenken, was natürlich dazu führte, dass die Filmindustrie diese Entwicklungen förderte und auf die Bedürfnisse des Marktes zu-geschnittene Produkte herstellte. Das größte Kino der Welt war in den 30ern die „Radio City Music Hall“ in New York. Es faste ganze 6200 Menschen – eine bis heute unerreichte Zahl. Der Kinobesuch war damals das kulturelle Ereignis. (vgl. Winter/Eckert 1990: 78)

So wie sich das Publikum also überwiegend aus unterhaltungshungrigen Normalbürgern zusammensetzte, so elitär waren damals die Kritiker. Demzufolge gingen die Meinungen über das, was einen guten Film ausmachte, weit auseinander – heute ist dies selbstverständlich nicht anders. Aber die entscheidende Kluft, die soziologisch relevante Filmanalysen fast unmöglich machten, bestand nicht zwischen individuellen Geschmäckern, sondern existierte aufgrund der äußerst verschiedenen Sichtweisen des Publikums und denen der linken Intellektuellen, die vor allem die Kritiken schrieben. Letzteren kam es weniger in den Sinn, eine Theorienbildung zu fördern, statt dessen lag ihnen vielmehr daran, die cineastische Massenwahre deutlich von den ästhetischen Kunstwerken abzuheben. (vgl. Wuss 1990: 15) 

Aus diesem intellektuellen Denken heraus entwickelte sich die erste Filmsoziologie, die sich in erster Linie mit dem Film alleine und weniger mit dem Verhältnis zum Publikum befasste. In den Anfängen der traditionellen Erforschung der Massenkommunikation nahm man an, dass das Publikum eine mehr oder weniger homogene Gruppe sei, die den Film rein passiv konsumieren würde. (vgl. Winter/Eckert 1990: 11) Doch schon die vielfältig individuellen Geschmäcker der Menschen müssten deutlich machen, dass das Publikum Filme vollkommen unterschiedlich aufnimmt und kognitiv verarbeitet. Bedenkt man alleine die unterschiedlichen Lebenssituationen, wird schnell klar, dass es eine Wechselwirkung zwischen dem Medium Film und den Zuschauern – den Rezipienten – geben dürfte. Erst Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann man, in der Soziologie dieses Verhältnis in den Mittelpunkt der Untersuchungen zu stellen. Aus diesen beiden Ansätzen haben sich folgende Grundtheorien entwickelt (vgl. Prokop 1971: 222-224):

1. Die Spiegeltheorie geht davon aus, dass das Publikum unbeeinflussbar ist, und sich die Filmindustrie somit an die Wünsche der Kunden halten muss, damit diese weiterhin das Kino besuchen. In diesem Falle wäre der Film also ein Abbild der kollektiven Bedürfnisse einer Gesellschaft.
2. Die Manipulationstheorie beschreitet den entgegengesetzten und radikalsten Weg. Hier nimmt der Film direkten Einfluss auf die Handlungen der Zuschauer.
3. Weit weniger spektakulär ist die Integrationstheorie. Demnach dient der Film dazu, sich Bilder und Vorstellungen anderer anzueignen. Wie die Aussagen jedoch interpretiert werden, hängt vom Rezipienten ab. Vor allem das Verhältnis zwischen Hollywood als amerikanischer Produzent und anderen, eventuell traditionelleren Kulturen als Rezipienten wird in diesem Zusammenhang recht interessant.

Eine klare Trennlinie zwischen den einzelnen Theorien zu ziehen, wäre eigentlich unverantwortlich, obwohl die Manipulationstheorie sicherlich unhaltbar ist, zumindest so, wie sie sich hier definiert. Alleine der Umstand, dass sich der Zuschauer längst nicht jeden Film ansieht, der ihm von Hollywood vorgesetzt wird, beweist schon deren Eigensinn. Und so kommt es trotz einem gewaltigen Einsatz von Meinungsforschern und Testvorstellungen immer wieder zu finanziellen Debakeln*1.  Einzig der Einfluss des Films auf die Freizeitgestaltung des Publikums ist unbestritten, was auf die Frage verweist, wie Menschen mit dem Medium umgehen und es konsumieren.

„Im Mittelpunkt steht die Funktion des Medienkonsums für die Menschen. Menschen nutzen Medien selektiv zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse und wirken auf die Medien ein, indem sie Erwartungen an sie stellen.“ (Winter/Eckert 1990: 11)
Bereits um überhaupt ins Kino zu gehen, muss man seinen Tagesablauf dementsprechend gestalten. Welchen Film man schließlich besucht, hängt wiederum vom Individuum und seinen speziellen Interessen ab.
Da US-amerikanische Produktionen den Weltmarkt mit Abstand beherrschen, befürchten einige Soziologen den Verlust von nationalen Kulturen. Vor allem Neil Postman vertritt die Meinung, dass es in absehbarer Zeit zu einer Einheitskultur kommen wird, in der Traditionen unwiederbringlich verloren gehen. (vgl. Winter 1990: 13) Auch diese Theorie scheint zu verdrängen, dass der Film von verschiedenen Personen verschieden interpretiert wird und dabei zuweilen auf recht gegensätzliche Milieus stößt. Gerade bei Hollywood-Produktionen bemerkt nicht ausschließlich der europäische Kritiker, sondern auch der gemeine Zuschauer, dass der eine oder andere Film doch sehr aufs amerikanische Publikum zugeschnitten ist. 

Inzwischen haben sich viele Genres entwickelt, die mehr oder weniger alle Schichten des Kino-Publikums abdecken, dass vornehmlich aus jüngeren Personen besteht. Je mächtiger die Freizeitindustrie in den vergangen Jahrzehnten wurde, desto stärker nahm merkwürdigerweise der regelmäßige Kinobesuch ab. Die Angehörigen des klassisch mittelständigen Publikums gehen mittlerweile nur noch eher zufällig ins Kino. (vgl. Prokop 1971: 219) Es ist also ein Markt entstanden, in dem das Individuum die sprichwörtliche Qual der Wahl hat. Moderne Kinos setzen nicht mehr wie früher auf einen einzigen großen Saal, sondern auf mehrere, kleinere Räume – dies sind die sogenannten Multiplexe. 
Haben sich mehrere Personen auf ein Genre spezialisiert, kann man von einer Sozialwelt oder gar Subkultur sprechen – Begriffe, die uns noch häufig bei der Betrachtung von Kultfilmen begegnen werden. Vor allem die Kultur der „Horrorfilme“ wird bei den Soziologen anscheinend dankbar aufgegriffen (dazu später mehr). Auch dieser Aspekt wiederspricht der Einheitskultur Postmans, denn je größer der Markt, desto umfangreicher ist auch die Anzahl der wählbaren Selbstdarstellungs-möglichkeiten. (vlg. Winter/Eckert 1990: 16)

In der Gegenwart wird das Verhältnis zwischen Film und Zuschauer relativ neutral betrachtet, obwohl selbst in der modernen Soziologie noch traditionell kritische Ansichten zu wirken scheinen: 

„Mein Interesse jedenfalls, eine Soziologie des Films zu schreiben, besteht darin, näher zu untersuchen, warum so wenig gute Qualität entsteht (soweit Qualitätsunterschiede mir ersichtlich waren). Warum man als Zuschauer immer wieder so viel Konventionelles und Schlampiges zu sehen bekommt.“ (Prokop 1982: 11)
Hätte der Autor hier eine etwas andere Formulierung verwendet, zum Beispiel warum die Zuschauer immer wieder so viel Konventionelles sehen wollen, wäre ich als Fan von den vermeintlich künstlerisch belanglosen Effektfilmen made in Hollywood an dieser Stelle nun einigermaßen beleidigt.
Bei Reiner Winter hingegen steht der Film als Text und der Zuschauer als Rezipient im Vorderund – leider ebenfalls nicht frei von Vorurteilen.
„Für anspruchsvolle Filme ist gerade kennzeichnend, dass die Kombination optischer und akustischer Elemente nicht automatisch, sondern künstlerisch motiviert sind.“ (Winter 1992: 35)
Es muss wohl nicht darauf hingewiesen werden, dass kaum ein Begriff so schwammig ist, wie der der Kunst. Abgesehen davon beschreibt Rainer Winter recht neutral (meiner Meinung nach) die Funktion des Textes. So ist der Film eine Realitätsreproduktion, die eine Kombination von Wirklichkeitswiedergabe und Fiktion ermöglicht. (vgl. Winter/Eckert 1990: 70-72)  Zugleich wird auf die Filmsprache und deren Wirkung beim Zuschauer hingewiesen, die aus seiner Sicht ebenfalls einer der Gegenstände soziologischer Forschungen sein sollte. Ein fahrendes Auto im Film kommt der Realität sehr viel näher, als eine Photographie oder das geschriebene Wort. Gerade in der Stummfilmzeit besaß die visuelle Filmsprache eine große Bedeutung. Da es keine Dialoge gab, konnten Gefühle und Eindrücke nur durch Mimik und Gestik der Schauspieler, aber auch durch den Einsatz von spezieller Beleuchtung oder Schnitttechnik dem Zuschauer übermittelt werden. Obwohl dieser Bereich allerdings eher in die Psychologie fällt, darf er jedoch auch von Soziologen nicht vernachlässigt werden. (vgl. Winter 1992: 28) Denn letztlich liegt es beim Rezipienten und dessen Kreativität, wie er jene Stilmittel bewusst und unterbewusst interpretiert. Zwar benötigt der Zuschauer keine besonderen Fähigkeiten, um einen Film zu sehen (z.B. um ein Buch zu lesen, muss man es zunächst lernen), doch in wie weit er dann auch den Inhalt versteht, hängt laut Winter von dessen kulturellen Kompetenz und Erfahrung ab. (vlg. Winter 1992: 24) Leider sagt Winter nicht, ob er das Verstehen von Lebenssituationen und Umwelten oder die Botschaften des Filmemachers meint. Im letzteren Fall wäre dann nämlich wieder jemand nötig, der die Absichten des Regisseurs zu erkennen glaubt (soweit dieser es nicht von vornherein öffentlich zu verstehen gibt, was er mit seinem Film aussagen wollte) und seine Interpretation als zutreffend proklamiert – eben ein Kritiker.

Ehe man diese Vielzahl von theoretischen Ansätzen nun konsequent auf Kultfilme überträgt, muss man zu bedenken geben, dass in der Film- und Mediensoziologie inzwischen das Kino als Hauptaugenmerk durch das Fernsehen abgelöst wurde, und sich Kulturkritiker (wie auch Postman) vornehmlich auf jenes Medium konzentrieren. Da aber jeder Kinofilm irgendwann auch im Fernsehen ausgestrahlt wird, ist er somit auch Teil dieses Mediums und bleibt weiterhin im Spannungsfeld.

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*1 Als größter Flop der Geschichte gilt der Abenteuerfilm „Cutthroat Island“ (Die Piratenbraut) 1995 von Erfolgsregisseur Renny Harlin („Stirb Langsam 2“): Die 100 Millionen-Dollar-Produktion konnte weltweit lediglich 14 Millionen Dollar einspielen.

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